Brandts Welt Junggesellinnenabschied

Jan Brandt
|
Von Jan Brandt
| 26.05.2023 16:12 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 3 Minuten
Artikel hören:
Jan Brandt schreibt wöchentlich eine Kolumne im General-Anzeiger. Foto: privat
Jan Brandt schreibt wöchentlich eine Kolumne im General-Anzeiger. Foto: privat
Artikel teilen:

Jan Brandts Vater hat einen Juggesellinenabschied bespaßt. Darüber schreibt der gebürtige Ostfriese in seiner aktuellen Kolumne.

Ich stehe hier schon seit einer Stunde“, verkündete Vater, als er am Busbahnhof aus dem Auto stieg, um mich zu begrüßen. Ich hievte meinen Koffer in den Kofferraum. „Aber ich hatte dich doch extra von Bremen aus angerufen und dir gesagt, dass der Zug Verspätung hat, dass ich erst um neun komme.“ Vater legte mir eine Hand auf die Schulter. „Aber um neun ist es doch schon dunkel, und ich mag nicht im Dunkeln fahren, und deshalb bin ich schon um acht los.“ Ich wollte protestieren, doch Vater sagte, dass das überhaupt kein Problem gewesen sei, er habe ja seine Mundharmonika dabei und hier auf dem Bahnhofsvorplatz die Leute prima unterhalten. „De wassen al heel blied.“

Einen Augenblick lang stellte ich mir vor, wie er auf der Betonbank unterhalb des alten Signalmastes zwischen Junkies und Alkis gesessen und In „Ostfreesland is am besten“ gespielt hatte, aber es waren keine Junkies und Alkis gewesen, sondern ein paar junge Frauen mit Bollerwagen. „Die haben tüchtig mitgesungen und mir sogar etwas geschenkt.“ Er holte ein Kartenspiel aus der einen Jackentasche und einen Glückskeks aus der anderen. „Das war ein Junggesellinnenabschied“, sagte ich, und Vater sagte: „Meenst dat? Dat löv ik neet. De wassen heel schier.“

„Sonst rufe ich die Polizei!“

In dem Moment fuhr ein Bus vor, und die Fahrerin machte das Fenster auf und rief: „Sie stehen ja immer noch hier. Sie blockieren die Fahrbahn. Das habe ich Ihnen vorhin doch schon gesagt.“ – „Ich stehe hier immer“, sagte Vater. „Seit wann ist das verboten?“ – „Seit dem Umbau des Busbahnhofs.“ – „Und wo sollen wir jetzt parken?“ – „Das ist Ihr Problem. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie wegkommen, sonst rufe ich die Polizei.“

Ähnliche Artikel

Auf der Rückfahrt war Vater ganz aufgebracht von der Wendung, die sein Bahnhofsvorplatzerlebnis genommen hatte. Um ihn aufzumuntern, bat ich ihn, den Glückskeks zu öffnen. Er riss die Verpackung auf, brach den Teig entzwei und las mir vor, was auf dem Zettel stand: „Denk immer daran, du bist etwas ganz Besonderes. Besonders hässlich.“ Er lachte zwei Sekunden, dann verfinsterte sich sein Gesicht wieder. „Ich sag doch, ein Junggesellinnenabschied.“ – „Dat kann ik mi nich vörstellen.“

Der Autor

Der Schriftsteller Jan Brandt wurde 1974 in Leer geboren, ist in Ihrhove aufgewachsen. Er studierte in London, Berlin und Köln Literaratur und Geschichte und absolvierte an der Deutschen Journalistenschule München eine Ausbildung. Heute lebt Jan Brandt in Berlin. Sein Debütroman, das Ostfriesen-Epos „Gegen die Welt“, stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

Zu Hause erzählte er meiner Schwester am Telefon, was passiert war, und sie sagte: „Die habe ich schon in Bunde an der Bushaltestelle gesehen.“ Am nächsten Tag, als die ganze Familie beim Osterbrunch im Garten zusammensaß und Vater und ich wieder davon sprachen, sagte mein Neffe: „Das war bestimmt Tamara, die heiratet nächsten Monat.“ Er schrieb ihr eine Nachricht. Und keine fünf Minuten später präsentierte er uns das Video, das Tamara aufgenommen hatte: Vater steht mit Mundharmonika vor einem Bollerwagen voller Flaschen und Sexpuppen. Neben ihm drei junge Frauen, die Arme umeinandergeschlungen. Vater spielt „Muss i denn zum Städele hinaus“, und die Frauen schunkeln und singen lauthals: „Wenn i komm, wenn i komm, wenn i wiederwiederkomm, kehr i ein, mei Schatz, bei dir.“ Am Schluss sagt Tamara aus dem Off: „Jetzt muss man ihm aber auch etwas geben.“ Vater schüttelte den Kopf. „Tatsächlich.“