GA-Weihnachtsaktion Wenn das Geld vorne und hinten nicht reicht

Elke Wieking
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Von Elke Wieking
| 27.12.2022 14:11 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Jedes Jahr bittet die Rhauderfehner Tafel vor Weihnachten auch um Lebensmittelspenden. „Ein Teil mehr“ heißt die Aktion, die immer im Edeka stattfindet. Foto: Wieking
Jedes Jahr bittet die Rhauderfehner Tafel vor Weihnachten auch um Lebensmittelspenden. „Ein Teil mehr“ heißt die Aktion, die immer im Edeka stattfindet. Foto: Wieking
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Ohne die Tafel in Klostermoor und das Soziale Kaufhaus hätte eine sechsköpfige Familie mit ihrem Einkommen kein Auskommen – obwohl der Vater arbeitet.

Oberledingerland - 2330 Euro: So viel Geld hat eine Familie aus dem Oberledingerland, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, im Monat zur Verfügung. 1500 Euro erarbeitet der 50-jährige Vater von vier Kindern im Alter zwischen drei und 16 Jahren, den wir hier Jan J. nennen. Weil er in Privatinsolvenz sei, dürfe er nicht mehr als bis zur Pfändungsgrenze bekommen, sagt Jan J.. Hinzu komme das Kindergeld. Abzüglich Miete, Strom, Gas und Telefon blieben rund 600 Euro im Monat übrig, rechnet er vor. Das Geld müsse für Essen, Kleidung, Schulsachen etc. reichen.

Tut es aber nur, wenn sich die Familie alle zwei Wochen bei der Tafel Rhauderfehn für 2,50 Euro pro Person in Klostermoor mit Lebensmitteln eindecken kann. Weil Jan J. unter die Pfändungsgrenze fälllt, dürfen er, seine Frau und die vier Kinder die Ausgabe regelmäßig besuchen. 90 Prozent der Kleidung und des Spielzeugs holten sie sich für kleines Geld auch im Sozialen Kaufhaus in Klostermoor, fügt Jan J. hinzu. Seit die Preise für alle alltäglichen Dinge drastisch angezogen haben, guckt das Ehepaar ständig nach Angeboten. Einmal in der Woche fahren Jan J. und seine Ehefrau zu Multi in Leer, um den wöchentlichen Großeinkauf zu machen. In dem Einkaufszentrum seien viele Geschäfte fußläufig zu erreichen, das spare Sprit, macht der Schlosser deutlich.

Neue Sachen? Geht nicht

Jan J. beklagt sich nicht. Trotzdem hofft er, dass er bald wieder wöchentlich zur Tafel gehen kann und nicht, wie derzeit, nur alle zwei Wochen. Das ist so, weil sonst zu wenig Lebensmittel an zu viele Kunden - derzeit rund 600 - verteilt werden müssten, macht Tafel-Leiter Egon Plaisier vom Arbeitskreis Schule Rhauderfehn deutlich.

Und ohne die Tafel kämen sie nicht rum, sagt Familie J. Was neues könnten sie sich kaum noch leisten, Rücklagen für einen Urlaub gebe es nicht mehr. Dabei kann sich Jan J. an Zeiten erinnert, wo das möglich war. Jetzt seien statt eines Sonntagsbratens für 15 Euro nur noch Würstchen mit Kartoffelsalat drin.

Arbeitskollegen wissen Bescheid

Seit rund zwei Jahren kommt Familie J. zur Tafel. „Das erste Mal ist schlimm gewesen“, erinnert sich der Oberledinger. Er habe sich damals geschämt. Inzwischen gehe er offen damit um, dass er für seine Familie die Lebensmittel-, Kleider- und Sachspenden in Klostermoor in Anspruch nehmen müsse - und nicht mal seine Arbeitskollegen würden ihn schief ansehen, stellte der Schlosser fest. Das Prinzip der Eltern: „In erster Linie sollen es die Kinder gut haben.“ Dafür würden sie „schon sehr zurückstecken“.

Ist Familie J. arm? „Das ist nicht so einfach zu sagen“, antwortet Helmut Hartema, Geschäftsführer und Sozialarbeiter des Diakonischen Werks des Kirchenkreises Rhauderfehn auf die Frage. Natürlich gebe es statistische Werte: Wer als Alleinstehender oder Alleinstehende von 780 Euro und darunter im Monat leben müsse, gelte als arm. Doch mit diesen Begriffen, weiß Hartema aus Erfahrung, kann er nur bedingt arbeiten. Vor allem ältere Leute kämen oft mit wenig Geld aus. Andere würden sich mit mehr Geld ärmer fühlen, weil sie viel mehr Ausgaben hätten, zum Beispiel für Kleinkinder.

Schlaflose Nächte

Tatsache sei, dass seit Oktober die Nachfrage für Lebensmittelgutscheine beim Diakonischen Werk drastisch angestiegen sei. Viele Familien, darunter auch Menschen, die arbeiten, hätten mit der Inflation und den hohen Preisen zu kämpfen - und schlaflose Nächte, wenn sie an die Nachzahlungen für Strom und Gas denken, sagt Hartema. Mal eben 200 oder 300 Euro überweisen, könnten viele nicht mehr leisten. Gleichzeitig müssten die Empfänger oft auf die Bewillung ihrer Anträge für staatliche Hilfen lange warten, sagt Hartema. Das liege auch daran, dass die Behörden einer Flut von Anträgen gegenüber ständen. Die Arbeitsbelastung sei hoch, der Krankenstand aber auch. Dort säße aber niemand auf der Ersatzbank, um einen anderen Mitarbeiter ersetzen zu können. Dazu seien die Anträge und Berechnungen zu kompliziert, weiß Hartema.

Die Menschen laufen auch dem Diakonischen Werk in Rhauderfehn und dem Verein „Rückenwind“ die Bude ein, um Hilfe für Lebensmittelgutscheine und Energiekosten zu bekommen oder, um die Schuldnerberatung aufzusuchen, macht der Fachmann deutlich.

Armutsquote steigt

Der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes weist für die zweite Hälfte des Pandemie-Jahres 2021 eine Armutsquote von 16,6 Prozent aus und urteilt: Damit sei ein „trauriger neuer Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen müssen demnach hierzulande derzeit zu den Armen gerechnet werden, 600.000 mehr als vor der Pandemie.“ Und: „Der Paritätische Wohlfahrtsverband rechnet angesichts der aktuellen Inflation mit einer weiteren Verschärfung der Lage.

50.093 sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen lebten laut Agentur für Arbeit am 31. März 2022 im Kreis Leer und gingen einer Beschäftigung nach. Das seien die aktuellsten Zahlen, teilt Philipp Koenen, Sprecher des Landkreises Leer, auf Anfrage mit. Die Zahl der Erwerbstätigen liege nochmals um rund 20.000 höher (71.120 am 31. 12. 2020), so Koenen weiter. „Zu den Erwerbstätigen gehören neben den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten die Personen in geringfügig entlohnten Beschäftigungen, Selbstständige und mithelfende Angehörige, Beamte, Soldaten und Richter.“

9559 Menschen leben von Hartz IV

Philipp Koenen nennt auch die Zahlen der Menschen im Landkreis Leer, die im November Unterstützung bekamen: „Es gab 4884 Bedarfsgemeinschaften mit zusammen 9559 Menschen, die von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II (Arbeitslosengeld II) leben. Darunter sind auch Flüchtlinge aus der Ukraine.“ In Ostrhauderfehn seien es 436 Menschen, in Rhauderfehn 985 und in Westoverledingen 878. Wohngeld beziehen derzeit 1470 Menschen, davon leben 117 in der Gemeinde Rhauderfehn, 139 in Ostrhauderfehn und 194 in Westoverledingen. Und Grundsicherung im Alter bekommen 976 Frauen und Männer im Kreis Leer, davon leben 115 in Rhauderfehn, 53 in Ostrhauderfehn und 89 in Westoverledingen.

GA-Weihnachtsaktion

In diesem Jahr sammeln der General-Anzeiger und Ein Herz für Ostfriesland gemeinsam für die Rhauderfehner und Friesoyther Tafeln. Das Spendenkonto: Ein Herz für Ostfriesland gGmbH, IBAN: DE 08 2859 1654 0032 651804, Volksbank Westrhauderfehn, Stichwort: GA-Weihnachtsspendenaktion.

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