GA-Weihnachtsaktion

„An meinem Grab wird es Wein geben“

Elke Wieking
|
Von Elke Wieking
| 08.12.2020 18:57 Uhr | 1 Kommentar | Lesedauer: ca. 5 Minuten
Artikel hören:
Artikel teilen:

Karin Siemer-Stallmann aus Barßel ist unheilbar krank. Die 72-Jährige glaubt nicht, dass sie den kommenden Sommer überlebt – und plant schon mal ihre Beerdigung.

Barßel - Karin Siemer-Stallmann lacht. Fröhlich, raumgreifend, ansteckend. Dabei hat die 72-Jährige kurz vorher gesagt, dass sie glaubt, den nächsten Sommer nicht mehr zu erleben. Denn die lebhafte Frau mit dem kurzen, wilden Schopf hat COPD (englische Abkürzung für „chronic obstructive pulmonary disease“). Auf Deutsch: „Chronisch obstruktive Lungenerkrankung“, eine Krankheit, bei der die Lunge dauerhaft geschädigt und die Bronchien verengt sind. Irreparabel.

Keine Transplantation

Sie habe sich auf einer Geburtstagsfeier 2017 eine Lungenentzündung geholt, erinnert sich die Barßelerin. Die wurde immer schlimmer, bis sie mit einer Lunge voller Eiter ins Krankenhaus kam. Ihre Lungenkapazität sank über die Jahre stetig. Als sie unter 20 Prozent lag, hoffte Siemer-Stallmann noch auf eine Transplantation. „Doch das geht nicht mehr, weil mein Herz noch einen mitbekommen hat“, sagt sie nüchtern. Die heißen Sommer hätten ihr zugesetzt. „Und irgendwann ist man auch zu alt.“

Nun sitzt Karin Siemer-Stallmann in ihrem großen Haus. Nach wenigen Schritten am Rollator ringt sie bereits nach Luft. Aber die 72-jährige, studierte Betriebswirtin und Heilpraktikerin lässt sich nicht unterkriegen. „Mein Vorteil ist: Ich bin nicht depressiv. Und ich gerate nicht in Panik, wenn ich keine Luft mehr kriege.“ So könne sie kühl überlegen, was als nächstes zu tun sei. Als Heilpraktikerin habe sie gelernt, sich selbst zu helfen. Sie stimuliert zum Beispiel Herzpunkte und weiß, wie sie sich entspannen kann, um Krämpfe zu lösen.

Ohne ihre Drogen geht nichts

Spendenaktion

In diesem Jahr sammeln wir für den ambulanten Hospizdienst Friesoythe – Barßel – Saterland und für das ambulante Kinderhospiz „helpful“ in Papenburg. Die Ehrenamtlichen dieser Einrichtung begleiten und unterstützen schwerstkranke und sterbende Menschen jeden Alters und ihre Familien zu Hause, im Pflegeheim und im Krankenhaus.

Spendenkonto: „Ein Herz für Ostfriesland gGmbH“, IBAN DE 19 2859 1654 0032 6518 00, Volksbank eG Westrhauderfehn, Stichwort: GA-Leser helfen 2020.

Trotzdem: Ohne ihre täglichen „Drogen“, also ein Milligramm Morphium und ein Tropfen Opium sowie weitere Schmerzmittel, kommt sie nicht mehr aus. Nachts braucht sie Sauerstoff. Hinzu kommen Lymphdränage, Krankengymnastik, Pflegekräfte, die ihr helfen, sie hat eine Haushaltshilfe, einen Gärtner – für all das ist gesorgt.

Warum braucht sie dann noch Hospizbegleiterin Ursula Weyland? „Ich bin hier allein“, sagt Karin Siemer-Stallmann und zeigt auf ihr geräumiges Erdgeschoss. Deshalb kommt die 73-jährige ehemalige Arzthelferin Weyland einmal die Woche zu Besuch – sehr zur Freude der gebürtigen Nordrhein-Westfälin. Sie und Ursula Weyland „haben sich immer was zu erzählen“, sagt Siemer-Stallmann munter, und die gebürtige Barßelerin nickt. Reden und Zuhören ist ihre Aufgabe bei Siemer-Stallmann als Ehrenamtliche der Barßeler ambulanten Hospizgruppe. Denn: „Pflegen dürfen wir ja nicht.“ Aber begleiten bis zum Schluss.

Kinder ließen Mutter im Stich

Ursula Weyland hat vor 20 Jahren angefangen: erst mit dem Besuchsdienst in einem Altenpflegezentrum, dann als Hospizbegleiterin. Zuvor hatte sie gesehen, dass eine alte Dame von ihrer Familie nie Besuch bekam. „Als sie starb, wollten sich ihre Kinder nicht mal um die Beerdigung kümmern.“ Weyland war erschüttert.

Und noch etwas trieb sie an, sich als Hospizbegleiterin ausbilden zu lassen: „Ich hatte immer Angst vor dem Tod“, sagt die schmale Frau mit den kinnlangen, grauen Haaren. Sie selbst verlor ihre Mutter sehr früh.

Die Angst vorm Tod

Aber die Begleitungen bis ans Sterbebett haben ihr diese Angst genommen. Weyland kümmert sich nur um Erwachsene und hat erlebt, dass der Tod für alle, trotz Tränen und Trauer, eine Erlösung sein kann. „Die meisten denken, dass das Ende immer traurig ist. Aber viele alte Leute wollen selbst nicht mehr.“ Außerdem hat Weyland, die seit 53 Jahren verheiratet und Mutter und Großmutter ist, festgestellt, dass es ihr nicht schwer fällt, für andere da zu sein und ihnen zu helfen, Abschied nehmen zu können.

Karin Siemer-Stallmann kann die Arbeit der Ehrenamtlichen des ambulanten Hospizdienstes gar nicht genug loben: „Ein tolles Angebot, das unbedingt unterstützt werden muss!“ Denn: „Es braucht schon Mut, in unserer Gesellschaft alt zu werden.“

Karin Siemer-Stallmann will ihre letzte Zeit aber noch so aktiv wie möglich gestalten. Wenn Ursula Weyland kommt, reden sie über alles. „Ehrlich“, betont Siemer-Stallmann. Mal geht es um den Sinn des Lebens, mal um die Wahl in den USA oder was in Barßel gerade los ist. Siemer-Stallmann interessiert alles. Sie habe auch keine Angst vor dem Sterben, sagt die 72-Jährige. Sie sei „sehr spirituell“ und wisse, was sie nach dem Tod erwarte, behauptet sie.

Wird sie ihr Tochter noch mal sehen?

Natürlich gehe es ihr auch mal schlecht, gibt sie zu. Ihr großer Kummer ist derzeit, dass ihre Tochter und ihre Enkel, die in Schweden leben, sie wegen der Corona-Pandemie zu Weihnachten nicht besuchen können. Ja, dass sie sie vielleicht nie mehr wiedersieht. „Als mir das klar wurde, habe ich geweint.“

„Ich werde fröhlich abtreten“

Hatte sie ein erfülltes Leben? „Ja! Und immer auf der Überholspur“, sagt Karin Siemer-Stallmann wie aus der Pistole geschossen. Im guten wie im schlechten: Sie habe zwei schwere Autounfälle überlebt, sei drei Mal verheiratet gewesen, zog zwei Kinder groß, pflegte Familienmitglieder, wechselte den Beruf, bildete sich aus und fort. Zurzeit erforsche sie ihre Familiengeschichte und arbeite an ihrer Trauerrede, sagt die 72-Jährige und schmunzelt. Denn selbstverständlich wird die muntere Frau ihr Ende nicht dem Zufall überlassen. „Ich werde fröhlich abtreten. An meinem Grab gibt`s Wein und Käsehäppchen.“ Nur was ihre Trauergäste anziehen sollen, das überlegt sie noch. Sicher ist: „Schwarz wird es wohl nicht sein.“

Ähnliche Artikel