Weihnachtsaktion

Sabine will unbedingt leben

Elke Wieking
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Von Elke Wieking
| 01.12.2020 19:11 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 6 Minuten
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Sabine Janßen kam zwölf Wochen zu früh auf die Welt und wog nur zwei Pfund, als sie Gehirnbluten bekam. Die Ärzte glaubten nicht, dass das Baby es schafft. Das ist jetzt 19 Jahre her.

Kreis Cloppenburg – „Sabine ist schlank, sie hat dunkle Haare und braune Augen - eigentlich ein sehr hübsches Mädchen“, sagt Gerda Janßen über ihre Tochter. Gerda Janßen heißt im wirklichen Leben nicht Gerda Janßen und ihre Tochter nicht Sabine. Aber anonym rede es sich leichter, meint die Cloppenburgerin. Denn Sabine ist 19 Jahre alt, aber geistig auf dem Stand eines Babys.

Das Mädchen kam zwölf Wochen zu früh auf die Welt, wog nur 1200 Gramm bei der Geburt und nahm sofort ab, bis es noch 1000 Gramm wog, zwei Pfund. Am zweiten Tag bekam der Winzling eine „massive Gehirnblutung“, erinnert sich Gerda Janßen. Außerdem stellten die Ärzte fest, dass das Kleinhirn nicht ganz ausgebildet war. Sie gaben Sabine keine Chance. Deshalb bekam das Baby in Absprache mit den Eltern, die sich laut Janßen „sehr gut betreut fühlten“, keine Blutkonserven und keine Medikamente. Aber Sabine starb nicht. „Sie wollte leben!“

Sabine hat noch drei Geschwister

Sabine ist heute erwachsen, aber geistig auf dem Stand eines sechs Monate alten Kindes, sagt ihre Mutter. Die junge Frau kann nicht laufen und nicht sprechen. Sie kann sehen, was und wie viel, ist unklar. Sabine kann aber hören und trotz ihrer spastischen Lähmungen einen Arm bewegen. Gerda Janßen, die Arzthelferin gelernt hat, betreut ihre Tochter zu Hause. Seit sieben Jahren ist sie alleinerziehende Mutter.

Birgit Buschermöhle aus Sedelsberg ist Hospizbegleiterin. Privatbild: Marcus Windus
Birgit Buschermöhle aus Sedelsberg ist Hospizbegleiterin. Privatbild: Marcus Windus

Sie hat noch drei Kinder im Alter zwischen 16 und 25 Jahren. Der Jüngste gehe noch zur Schule, ein älterer Sohn mache eine Ausbildung und ihre älteste Tochter studiere Elektrotechnik, sagt die Cloppenburgerin stolz. Alle leben zu Hause.

Notarzt kam einmal im Monat

Weil Sabine oft schwere epileptische Anfälle bekomme, sei bis zu ihrem zwölften Lebensjahr mindestens einmal im Monat der Notarzt im Haus gewesen, beschreibt Gerda Janßen ihren damaligen Alltag. Dann bekam das Mädchen unter anderem einen Shunt, um überflüssiges Hirnwasser über Schläuche ableiten zu können, ein Magenband, damit es sich nicht mehr ständig übergeben musste und eine Rückenversteifung, weil die Lunge einquetscht wurde. Allein diese Operation habe zwölf Stunden gedauert, sagt die Mutter. Hinzu kam ein Riesentumor in der Brust: „Sabine hat alles mitgenommen, was man mitnehmen kann.“ Inzwischen kann die junge Frau, die künstlich ernährt und 24 Stunden gepflegt und überwacht wird, aber in sogenannten Akutsituationen meistens zu Hause bleiben.

Dass sie trotz ihrer schweren geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen lebt, liegt nach Meinung ihrer Mutter an der modernen Medizin und daran, weil sie bei ihrer Familie ist. „Sie kennt uns.“ Und ihre Mutter und Geschwister kennen Sabine: Sie wissen, wann sie traurig und wann sie fröhlich ist, was sie lustig findet. Sie wissen, dass sie Musik liebt und die täglichen gemeinsamen Sparziergänge mit ihrer Mutter bei Wind und Wetter.

Alle freuen sich auf Löwenherz

Aber was hilft Gerda Janßen, durchzuhalten? „Wenn mein Kind mich anlächelt.“ Dann könne sie die Dauerbelastung wieder ertragen. Sie sei auch nicht unglücklich, beteuert Gerda Janßen. „Irgendwann hat es Klick gemacht. Man kann sich bedauern oder die Situation annehmen. Aber das hat gedauert.“

Spendenaktion

In diesem Jahr sammeln wir für den ambulanten Hospizdienst Friesoythe – Barßel – Saterland und für das ambulante Kinderhospiz „helpful“ in Papenburg. Die Ehrenamtlichen dieser Einrichtung begleiten und unterstützen schwerstkranke und sterbende Menschen jeden Alters und ihre Familien zu Hause, im Pflegeheim und im Krankenhaus.

Spendenkonto: „Ein Herz für Ostfriesland gGmbH“, IBAN DE 19 2859 1654 0032 6518 00, Volksbank eG Westrhauderfehn, Stichwort: GA-Leser helfen 2020.

Ein Rettungsanker ist für sie seit zwölf Jahren das Kinder- und Jugendhospiz Löwenherz in Syke bei Bremen. Seit Sabine zwölf Jahre alt ist, geht die Familie zwei Mal im Jahr dorthin. Gerade steht wieder ein Aufenthalt an und Janßen freut sich riesig darauf. Denn entgegen der landläufigen Meinung kommt Sabine in das Kinder- und Jugendhospiz nicht, um dort ihre letzten Tage zu verbringen, sondern damit sich ihre Familie von der täglichen Dauerbelastung erholen kann. Weil die Tochter dort in guten Händen ist, kann Gerda Janßen Luft holen, mal allein sein oder mit Eltern reden, die wissen, wie sie sich fühlt und was sie leistet. Außerdem stehen dort die Geschwisterkinder im Mittelpunkt: Sie treffen andere in ihrer Situation, gehen ins Kino, in den Zoo, sitzen am Lagerfeuer und vieles mehr.

„Ein tolles Erlebnis“

Und Gerda Janßen kann mit Sabine ins Therapiebecken. „In viele Schwimmbäder kommt man ja mit dem Rollstuhl nicht rein“, weiß sie. In Syke können Mutter und Tochter gemeinsam ins Wasser: „Ein tolles Erlebnis.“

Heißt das aber, dass Sabines Geschwister im Alltag oft zurückstecken mussten? „Eigentlich nicht“, meint die 50-Jährige. Sie habe immer darauf geachtet, dass sich nicht alles um ihre Drittälteste drehe. „Wir leben mit Sabine, nicht für Sabine.“ Die Geschwister hätten Vereine besucht, geritten, Fußball gespielt. Und sie selbst hat seit fünf Jahren eine Hospizbegleiterin.

Endlich mal reden können!

Seit 2018 kommt Birgit Buschermöhle vom ambulanten Kinderhospizdienstes Friesoythe einmal im Monat zu ihr. Gerda Janßen weiß das sehr zu schätzen: „Dann kann ich endlich mal über alles reden. Denn Freunde und Verwandte können es nicht mehr hören.“ - Stimmt, sagt Buschermöhle. Sie kennt das. „Viele rollen mit den Augen, wenn die Betroffenen den Mund aufmachen.“ Aber die 56-Jährige nicht, dank ihrer Ausbildung als Hospiz- und als Trauerbegleiterin für Erwachsene und Kinder. Die Mutter von drei Kindern kommt aus Sedelsberg (Gemeinde Saterland) und ist Verwaltungsfachangestellte bei der Straßenmeisterei Friesoythe.

Sie weiß, was ihre Aufgabe bei Gerda Janßen und in anderen Familien ist: zuhören und höchstens mal im Gespräch eine andere Perspektive, einen anderen Aspekt einbringen. Wozu sie nicht da ist, sagt die Saterländerin auch: Sie löse keine Probleme und wolle die Familien nicht ändern. Sie sehe schließlich nie das große Ganze, sondern nur eine Momentaufnahme, sagt Buschermöhle. Sie wolle Eltern, Geschwister und oft auch Verwandte unterstützen, niemandem etwas „überstülpen“, sondern höchstens Hilfe zur Selbsthilfe geben.

Das Leben von draußen reinbringen

Sie hat gelernt, sich abzugrenzen: „Das ist nicht mein Leben, das sind nicht meine Probleme.“ Wenn sie doch mal etwas belastet, hat die Hospizbegleiterin die Möglichkeit einer Supervision, also selbst mit einem Profi zu sprechen.

Die Saterländerin hat bereits mehrere Menschen bis zu ihrem Tod begleitet, darunter auch eine 39-jährige Mutter von drei Kindern. Man müsse sich keine Illusionen machen, je länger man schwerstkrank sei, desto weniger Menschen kämen vorbei, weiß Buschermöhle.

Denn viele seien nicht in der Lage, über den Tod zu sprechen. Diese Sprachlosigkeit zu ändern, war Birgit Buschermöhles Motivation, Schwerstkranke und Sterbende zu begleiten. Die inzwischen verstorbene 39-Jährige brachte auf den Punkt, was die Buschermöhles Besuche ihr bedeuteten: „Sie sagte: ,Du bringst das Leben von draußen rein.‘“

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