Berlin (dpa)

Folkrock-Frühling: Entschleunigte Songs statt Frohsinns-Pop

Werner Herpell, dpa
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Von Werner Herpell, dpa
| 07.04.2020 12:28 Uhr | 0 Kommentare | Lesedauer: ca. 5 Minuten
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Die Zeiten sind unsicher, der Rückzug in die eigenen vier Wände ist das Gebot der Stunde. Jetzt wünschen sich viele Hörer entschleunigte Musik, die zum Ernst der Lage passt. Aktuelle Vorschläge aus der großen Stilschublade Folkrock/Country/Singer-Songwriter.

In der Corona-Krise ist Frohsinns-Pop für viele gerade nicht erste Wahl. Man bleibt zuhause und hört ruhigere, ernsthaftere Musik. Die Auswahl in den zeitlosen Genres Folkrock, Alternative Country und Singer-Songwriter ist zum Glück groß: neue Alben, mit denen man gut durchs schwierige Frühjahr 2020 kommen kann.

VERTRÄUMTE TRAUERLIEDER: M. WARD

„Migration Stories“ heißt das zehnte Album dieses Folkrock-Musikers, der vor 46 Jahren als Matthew Stephen Ward in Kalifornien geboren wurde, dessen Lieder aber so gar nichts von kalifornischer Ausgelassenheit haben (trotz hübscher Surfpop-Zitate im Track „Unreal City“). Er lässt Gitarren im nostalgischen Fifties-Twang eines Duane Eddy erklingen, unterlegt seinen verträumten Zeitlupengesang mit säuselnden Chorstimmen („Heaven's Nail An Hammer“) - und erzählt in melodischen Songs sensible Geschichten voller Trauer und Mitgefühl.

Im Duo She & Him mit Schauspielerin Zooey Deschanel und im Projekt Monsters Of Folk mit Conor Oberst (Bright Eyes) hat sich Ward in den vergangenen Jahren einigen Ruhm in Pop- und Americana-Zirkeln erspielt. Mit seiner neuesten Studioplatte nähert er sich nun wieder dem Sound der melancholischen Meisterwerke „Hold Time“ (2009) und „A Wasteland Companion“ (2012).

Die elf Ward-Stücke von „Migration Stories“ sind allerfeinster entschleunigter Singer-Songwriter-Stoff - und mit ihrer unaufdringlichen Empathie für Flüchtlinge gerade in Zeiten der allgemeinen Verunsicherung ungeheuer wohltuend.

AUCH ALS SONGWRITER EIN ASS: JAMES ELKINGTON

Er ist der typische „Musician's Musician“ - also einer, der von den viel Berühmteren seiner Zunft als Begleiter und Bandmitglied hoch geschätzt wird. Seit einigen Jahren profiliert sich der in Chicago lebende Brite James Elkington aber auch als Solokünstler. Auf dem neuen Studioalbum „Ever-Roving Eye“ ist der Gitarrenvirtuose, der zuletzt mit Jeff Tweedy (Wilco), Steve Gunn und Richard Thompson spielte, auch als Songschreiber so gut wie noch nie.

Wie auf dem gefeierten Solodebüt „Wintres Woma“ (2017) strebt der Endvierziger eine Verbindung nordamerikanischer und britische Folk-Traditionen an - allerdings mit diesmal noch besseren Kompositionen und selbstbewussterem Gesang. Das große Vorbild Nick Drake schwebt erneut über einigen mit Streichern und Bläsern angereicherten Klanggemälden („Leopards Lay Down“, „Much Master“). Anderswo geht es in Richtung von US-Gitarrenbands der 90er oder eines lässigen Folk-Jazz („Late Jim's Lament“), das Titelstück integriert sogar Krautrock. „Ever-Roving Eye“ ist eine meisterliche Platte, mit der dieser Songwriter aufs Niveau seiner „Arbeitgeber“ steigt.

ETWAS FOLK, VIEL GITARRENROCK: NAP EYES

Dass Elkington auch ein versierter Albumproduzent ist, beweist er mit „Snapshot Of A Beginner“, dem von ihm betreuten vierten Studiowerk des kanadischen Quartetts Nap Eyes. Die Band aus Halifax/Nova Scotia um Frontman/Songschreiber Nigel Chapman hat einen mehrjährigen Reifungsprozess mit ihrer bislang stärksten Platte abgeschlossen. Auch Nap Eyes machen Folkrock - mit Betonung auf Rock. Ihre elf neuen Lieder sind bei aller Slacker-Lakonie oft sehr muskulös („If You Were In Prison“) - insgesamt eine gelungene Gratwanderung zwischen Nada Surf und Real Estate, Mac DeMarco und Pavement.

Chapmans dunkle, leicht windschiefe, zum Sprechgesang tendierende Stimme erinnert immer ein wenig an Lou Reed, ohne dessen Galligkeit allerdings. Epische Lieder wie „Fool Thinking Ways“ oder das grandiose „Real Thoughts“ weisen den Nap-Eyes-Boss und seinen zweiten Gitarristen Brad Loughead als junge Wilde an den sechs Saiten aus. Und wer einen Songtitel wie „Mark Zuckerberg“ über den Facebook-Gründer im Programm hat, kann sowieso nichts falsch machen.

ZEHN RETRO-LIEDER OHNE BALLAST: SLOW LEAVES

Wie die Nap Eyes kommt das Bandprojekt Slow Leaves - im wesentlichen Gitarrist, Sänger und Songautor Grant Davidson- aus Kanada. Das neue Album „Shelf Life“ der aus Winnipeg stammenden Truppe enthält jedoch zehn Lieder, die näher am Sixties- und Seventies-Countrypop dran sind als an Rockmusik. Zum Bandnamen sagt der Frontmann: „Langsame Blätter – die poetische Verbindung der beiden Worte und Mehrdeutigkeit beschreibt die Stimmung meiner Lieder sehr gut.“.

Bisweilen weht ein Hauch von „Everybody's Talkin'“, dem Welthit von Fred Neil/Harry Nilsson, vorbei („Sentimental Teardrops“). Davidson singt mit feinem Vibrato ein bisschen wie Roy Orbison. Songs wie „Sink Full Of Dishes“ oder „Autumn Rain“ brauchen nicht viel Arrangement-Ballast: Fingerpicking-Akustikgitarren, Piano, Orgel, Bass, federleichtes Drumming, ein paar Streicher - fertig. Lediglich das Uptempo-Stück „Half Of The Bed“ stört etwas. Doch insgesamt ist „Shelf Life“ ein gerade in Krisenzeiten sehr angenehmes Retro-Album zum Relaxen und Träumen von besseren Tagen.

KAUZ MIT BERUHIGENDER WIRKUNG: CLEM SNIDE

Wie der eingangs erwähnte M. Ward gehört auch der Frontmann des US-Bandprojekts Clem Snide, ein Songwriter aus Boston mit dem schön schrägen Namen Eef Barzelay, zu den kauzigeren Typen des Folk-Genres. Sein neues Album „Forever Just Beyond“, das erste seit fünf Jahren, hat Scott Avett von den sehr erfolgreichen Avett Brothers produziert - und den manchmal etwas struppigen Alternative-Country-Sound von Clem Snide gerade so geglättet, dass es den Liedern sehr gut tut.

Barzelay verarbeitet hier große, ernste Themen wie Depression und leise Hoffnung, Identität, Gott und das Leben nach dem Tod. Ein gewiss nicht perfekter, aber hochsympathischer Sänger, sensible Texte und ein sehr intimes, einladendes Klangbild: Auch „Forever Just Beyond“ ist eine Platte, die in der Corona-Isolation beruhigende Wirkung entfalten kann.

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